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Seit etwa dreißig Jahren ist der Begriff epistemic violence in der Welt, um den Stellenwert vor allem wissenschaftlichen Wissens im Kontext globaler asymmetrischer Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu thematisieren. In post- und dekolonialen sowie feministischen Debatten unterschiedlichster thematischer Schwerpunkte wird er mit großer Selbstverständlichkeit verwendet, wurde aber bis heute nicht umfassend theoretisiert.

In jenen wissenschaftlichen Feldern hingegen, die sich mit den offensichtlich gewaltförmigen Aspekten gesellschaftlicher Verhältnisse beschäftigen, wie etwa in der Friedens- und Konfliktforschung, in der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung, in den Internationalen Beziehungen oder in der Politikwissenschaft, ist so gut wie nie von epistemischer Gewalt die Rede. Wo es ausdrücklich um Gewalt geht, rücken epistemologische Fragen oft in den Hintergrund. Komplementär dazu wird in der Wissenschaftstheorie und Wissenssoziologie Gewalt nicht als ausreichend relevanter Gegenstand oder Begriff erachtet.

Die Gründe für diese wechselseitige Leerstelle sind vielfältig. Um ihnen nachzugehen und Argumente zu formulieren, die für ein Zusammendenken von Gewalt einerseits und Wissen andererseits sprechen, verorte ich meine Ausgangsfrage an dieser Schnittstelle nicht nur zwischen Wissen und Gewalt, sondern auch zwischen einem analytischen und einem politischen Erkenntnisinteresse. Die Frage lautet schlicht:

Was ist epistemische Gewalt und wie wirkt sie?

Diesem doppelten Erkenntnisinteresse liegen vier Annahmen zugrunde.

1. Das überwiegend eurozentrische Repertoire an Gesellschaftstheorien, die Wissen(schaft) und Gewalt als zwei einander diametral entgegengesetzte Domänen des Sozialen verstehen, erlaubt nur eine unzureichende Erfassung möglicher Zusammenhänge zwischen diesen Domänen.

2. Sich‚ einen Begriff zu machen‘ von diesem Zusammenhang ist die Voraussetzung dafür, dieser wechselseitigen Leerstelle angemessen zu begegnen. Der Begriff epistemische Gewalt bietet sich als Ausgangspunkt für eine solche Begriffsarbeit und Theoretisierung an.

3. Antworten auf die Frage danach, wie epistemische Gewalt wirkt und worin sie sich manifestiert, können mit einem transdisziplinären Konzept epistemischer Gewalt auf eine Grundlage verweisen, die sich nicht in partikularen Erklärungen je unterschiedlicher Gewaltereignisse erschöpft, sondern die Dimension des Wissens in die ganzheitliche Analyse und Kritik dieser Ereignisse integriert.

4. Die Arbeit an einer Theoretisierung epistemischer Gewalt stellt einen Beitrag zu einer Kritik der Herrschaft in der globalen Moderne dar – und zur Dekolonisierung dessen, was dekoloniale Autor_innen die Kolonialität von Macht, Wissen und Sein nennen.

Gewalt weiter denken

Es ist mein Ziel, dass wir uns mit existierenden Gewaltverhältnissen ebenso wenig zufriedengeben wie mit den Denkweisen über diese. Wir müssen immer wieder neue Wege der Analyse und Theoretisierung von Gewalt beschreiten, sie also weiterdenken. Das gilt gerade auch dort, wo wir bisweilen an Grenzen stoßen, weil ihre Phänomene uns politisch, kognitiv oder auch emotional überfordern, oder weil wir an einem engen Verständnis von Gewaltfreiheit festhalten, das dadurch ins Wanken zu geraten droht. Entgegen einem liberal-universalistischen Verständnis dieses ‚Wir‘ ist mir wichtig zu betonen, dass unterschiedliche soziale Positionierungen mit sehr unterschiedlichen Formen und Graden der Verstrickung in Gewalt einhergehen. Dies muss auch bei der Teilung dieser Verantwortung in Rechnung gestellt werden.

Gewalt weiter denken ist darüber hinaus ein Plädoyer dafür, bei der Analyse und Kritik von Gewalt bewusst auf weite Konzeptionen zu setzen und diese in genau jene Debatten und Felder (zurück) zu holen, die sich in einem allzu engen Verständnis mit Gewalt im internationalen beziehungsweise globalen politischen Kontext beschäftigen. Im Kontext dieser Arbeit sind dies insbesondere epistemische, strukturelle, kulturelle, symbolische und normative Gewalt.

Transdisziplinäre Theoretisierung

Ein Konzept epistemischer Gewalt soll vor allem dort mehr Resonanz erlangen, wo Wissen(schaft) und Ge-walt weit auseinander zu liegen scheinen und doch untrennbar miteinander verbunden sind: in jenen sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen, die sich mit Fragen von Gewalt in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen, vor allem aber mit direkter physischer Gewalt im Kontext internationaler Politik beschäftigen. Diese Gewalt wird selten in einem größeren Zusammenhang von Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen verhandelt.

Dort wiederum, wo epistemische Gewalt zum nicht mehr erklärungsbedürftigen Basisvokabular zählt, in kulturwissenschaftlich geprägten Feldern der post- und dekolonialen Debatte oder auch indigener Wissenskritik, kann die auf einer Auseinandersetzung mit epistemischer Gewalt basierende Relektüre von anderen weiten Gewaltbegriffen wie strukturelle und kulturelle, symbolische und normative Gewalt Anschlussstellen für eine trans-disziplinäre Gewaltkritik bereitstellen. Letztere ist mehr als nur Wissenskritik, und im besten Fall verliert sie auch die Verbindungen von epistemischer mit direkter physischer Gewalt nicht aus dem Auge.

Um dieses Ziel zu verfolgen, nutze ich Elemente aus unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften, die einander ergänzen und vertiefen. Schließlich verstehe ich meine Auseinandersetzung mit epistemischer Gewalt als Mosaikstein eines facettenreichen und langen Prozesses der Dekolonisierung von Wissen(schaft), einem durchaus widersprüchlichen Unterfangen, das ich aus epistemologischen, politischen und ethischen Gründen als richtig und wichtig erachte. Warum es dieser Dekolonisierung bedarf und was ein Konzept epistemischer Gewalt dazu beitragen kann, erörtere ich in meinem Buch.

Auszug aus der Einleitung zu: Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne